1. Präsenz der Naturgeschichte
In Kultur und Literatur der Gegenwart ist eine Renaissance der Naturgeschichte zu konstatieren; die Renaissance einer abgelebten epistemischen und literarischen Formation, mit der es spätestens mit der Evolutionstheorie vorbei war[1]. Es gibt eine durchaus auffällige Rückkehr zu Mustern, die wissenschaftsgeschichtlich mit Namen wie Carl v. Linné und Georges Buffon verbunden ist, aber auch mit Namen wie dem des franko-amerikanischen Vogelmalers John James Audubon, und auch noch dem von Alfred Brehm, dem Autor des ab 1864 erscheinenden Tierleben[2].
So hat etwa der australische Autor Richard Flanagan mit dem erfolgreichen Roman Gould’s Book of Fish (2001) die Geschichte des Fischmalers Buelow Gould mit einer Konjekturalgeschichte Tasmaniens verbunden. Die Biographie Linnés ist – neben der von Francis Galton und Henrik Ibsen – Gegenstand von Faszination und Machination in Antonia S. Byatts Roman The Biographer’s Tale von 2001. Der schwedische Fotograf Edvard Koinberg hat, Linné zu Ehren, ein Herbarium amoris gestaltet, eine erotische Botanik als Reverenz gegenüber Linnés Sexualsystem der Pflanzen: Das Vorwort stammt von Henning Mankell – eine Linné-Hommage unter dem etwas zweideutigen Titel Der Pflanzenliebhaber. Der amerikanische Tiermaler Walton Ford knüpft, Pasticcio oder Parodie, mit seinen ironischen Tierdarstellungen direkt an die Manier der naturgeschichtlichen Tierillustration des frühen XIX. Jahrhunderts an, hier an Audubon.
Ebenso stark in der naturgeschichtlichen Tradition verankert ist das Werk der Künstlerin und Schriftstellerin Anita Albus, nicht zuletzt bekannt für ihre Vignetten zu Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt (1988) in Hans Magnus Enzensbergers Anderer Bibliothek. In den Bänden Botanisches Schauspiel und Von seltenen Vögeln eröffnet Albus, durchaus unter Gegenwartsabsichten, ein Kabinett der Naturgeschichte der Frühen Neuzeit bis ins XIX. Jahrhundert. Ihre Pflanzen- und Tierporträts stehen damit in einer langen naturgeschichtlichen Darstellungstradition, die von den holländischen Blumenmalern des XVII. Jahrhunderts, von Maria Sybilla Merians Metamorphosis insectorum Surinamensium (1705) über Karl Friedrich Martius’ Historia naturalis palmarum (1823) hin zu Audubon und John Goulds Monographie der Tukane (1850) und Edward Lears Illustrations of the Family of Psittacidae, or Parrots reicht, letzteres das Werk eines Malers und Autors, der durch seine von Enzensberger übersetzte Nonsenslyrik bekannter geworden ist. Alle genannten Titel sind in den letzten Jahren in teils aufwendigen, teils günstigen Editionen neu aufgelegt worden, und dokumentieren das wiedererwachte Interesse an der Naturgeschichte. Judith Schalansky gibt seit 2013 die nicht anders denn als naturgeschichtlich zu bezeichnende Reihe « Naturkunden » bei Matthes & Seitz heraus. Vervollständigt wird das Bild durch die Neuausgaben von Henry David Thoreaus Wilden Früchten und, in der Anderen Bibliothek, von Johann Friedrich Naumanns Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas (ab 1822) und der Neuausgabe von Georg Forsters Reise um die Welt. Die Naturgeschichte ist die Gattung der Liste[3], diese werde geschlossen mit einem Hinweis auf die große Neuausgabe des Insektenforschers Jean-Henri Fabre ebenfalls bei Matthes & Seitz, mit Illustrationen von Christian Thanhäuser.
An allen diesen Unternehmen ist die große Nähe zur Literatur auffällig, sie erinnern daran, dass Naturgeschichte in Beschreibung und Darstellung gerade auch ein Vertextungsunternehmen gewesen ist. Die Texte, die in Albus’ Botanischem Schauspiel ihren Blumenporträts beigegeben sind, folgen stets derselben Disposition: Sie beginnen mit einem längeren literarischen Zitat (das längste, man könnte sagen, erwartungsgemäß, stammt aus Barthold Hinrich Brockes’ Irdischem Vergnügen in Gott), werden gefolgt von einem Kurzessay zur Kulturgeschichte der botanischen Entdeckungen und abgeschlossen mit Bemerkungen zur möglichen Aufzucht der beschriebenen Pflanze in unseren Breiten. In der biologischen Gegenwart verortet Albus – so in Von seltenen Vögeln, einem Buch über bedrohte, ausgestorbene und kulturell auratisierte Vogelarten – ihre Unternehmungen mit robusten Polemiken gegen die evolutionistische Soziobiologie, gegen den Determinismus der Hirnforschung und gegen die Genetik[4]. An deren Stelle treten Figuren der Naturgeschichte des XVIII. Jahrhunderts, wie Linné und Buffon; den Artikel über die Vögel aus Buffons Naturgeschichte von 1770 druckt Albus in eigener Übersetzung kommentarlos ab[5]. Für den Klappentext der Seltenen Vögel hat Christoph Ransmayr einen Satz beigesteuert, der an das Schlusstableau seiner Letzten Welt erinnert :
Wer sich in Anita Albus’ wunderbaren Beschreibungen und Bildern des Vogellebens verliert, vergisst für die Dauer des Vergnügens vielleicht sogar unerfüllbare Wünsche wie den, sich einmal im Leben wie ein Vogel in die Tiefe fallen zu lassen.
Wozu bis hier einige Indizien gesammelt werden sollten, ist der Aufweis einer kulturellen sensibility, die der Naturgeschichte günstig ist. Das Darwin-Jubiläum 2009 – das Doppeljubiläum von 200. Geburtstag und 150 Jahren Evolutionstheorie – ist wenig spektakulär verlaufen, mehr denn als Theoretiker von Evolution und Selektion ist Darwin als Naturhistoriker im beschriebenen Sinn erinnert worden, der Reisebericht der Voyage of the Beagle (1839) mehr und öfter als Origin of Species (1859). Und auch die erwartbaren kulturellen Affinitäten sind mobilisiert worden. Für das Vorwort einer Neuausgabe von Darwins Reisebericht hat sich – gewiss durch seinen Roman über Carl Friedrich Gauß und den Naturhistoriker Alexander v. Humboldt, Die Vermessung der Welt (2005) – Daniel Kehlmann qualifiziert. Die interessantesten Beiträge zum Darwin-Jahr schienen aus der Kunstgeschichte zu kommen : das erfolgreiche Buch von Julia Voss über Darwins Bilder und den Versuch von Horst Bredekamp, hinter Darwins « tree of life » visuell und kulturell die Naturgeschichte der Koralle zu entziffern.
Tatsächlich dürfte es der « ruchlose Optimismus der Frankenstein-Fraktion »[6] sein, von dem Enzensberger in seiner Polemik gegen Molekularbiologie und Genetik, « Putschisten im Labor » (2001), gesprochen hat, der die Literatur alarmiert hat; und Enzensberger zufolge verzeichnet die Literatur längst die dystopischen Kosten, während jene Fraktion ungebrochen die Phantasien des XIX. Jahrhunderts tradiert ; eines Jahrhunderts, das Anita Albus genau deshalb das « stupide » genannt hat. Im selben Sinn hat sich Jürgen Habermas jüngst als « Biokonservativer » bezeichnen lassen[7]. Erinnert man sich der genannten Gegner aus Anita Albus’ Naturgeschichten, findet man sie hier wieder. Durs Grünbein hat in seiner Berliner Chronik zum Jahr 2000 ein Plädoyer für die Sichtbarkeit und das Makroskopische gehalten und Darwin als Schwellenfigur zum Totenreich der Abstraktion porträtiert :
Die beliebte Rede vom Paradigmenwechsel unterstellt ja, verändert hätte sich nur die Art und Weise des Zeigens, die Erzähltechnik des Romans der Historia Naturalis. Wie aber, wenn das Vorzeigen selbst auf der Strecke geblieben wäre? […]
Mathematik und Chemie haben die wesentlich phänomenologische Biologie unterwandert. Immer komplexere Modelle versuchen der Unanschaulichkeit neuester Erkenntnisse Herr zu werden. Seit der technologischen Aufrüstung der Biowissenschaft ersetzt der Eingriff das Studium des Stoffes. […]
Dem Rekognoszieren folgt der Angriffskrieg, die experimentelle Zertrümmerung der Substanz im Labor. Molekularbiologie und Genetik zeigen nun, was moderne Kriegsführung heißt.[8]
Eine ganz ähnliche Distanz findet sich bei Christoph Ransmayr. « Wie? Auch das Genom, sagen Sie, soll mittlerweile entschlüsselt sein? » sagt der Sprecher von Ransmayrs kleiner, umwegiger Beiseite-Poetik Geständnisse eines Touristen von 2004,
Verzeihen Sie mir eine kleine Respektlosigkeit, aber ich habe in diesem Genomgeschnatter oft nur Der Gnom ist entschlüsselt! Der Gnom ist entschlüsselt! verstanden […]. […] Ich habe keine Lust, mich in Klassen- und Kastengesellschaften einer winkenden Zukunft herumzuschlagen, in der abgebrannte Naturschöne, verzweifelte Krüppel und von Ersatzteilen oder Zuchtgesundheit strotzende Börsenzombies mit der Lebenserwartung von Meeresschildkröten um die Novellierung allerneuester Pensionsregelungen kämpfen.[9]
Nach seiner Liaison mit der Hirnforschung, die ihm die Zuwendung von am Wissen interessierter Literaturwissenschaft eingetragen hat, hat sich Grünbein dem Makroskopischen zugewendet ; in einer gelungenen Rezension absonderlich aussehender Tiefseefische hat Grünbein für etwas plädiert, was schlichtweg als naturgeschichtlicher Blick zu bezeichnen wäre[10]. Ein ähnlicher Blick ist es, den zwei sehr unterschiedliche Besucher des Wiener Naturhistorischen Museums der letzten Jahre teilen, Uwe Tellkamps Komtur Lilienstein aus Reise zur blauen Stadt (2009) und Gerhard Roth für Die Stadt, ebenfalls 2009.
Als Gegenproben mögen jene Szenarien gelten, die Evolution entweder zu einem planetarischen Szenario einer posthumanen Geschichte hin extrapolieren, wie Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten (2008); oder aber auf das Scheitern individueller Lebensläufe wie den einer sozialdarwinisierenden Biologielehrerin mit DDR-Hintergrund. Die Pointe von Judith Schalanskys Roman Der Hals der Giraffe (2011) dürfte darin bestehen, dass die Darwinistin sich in ihrer selbstapologetischen Schlusstirade in Thesen des Anti-Darwin Lamarck verstrickt (ihr Name ist auch gleich Inge Lohmark).
2. Begriff und Poetik der Naturgeschichte
Um dem Begriff der Naturgeschichte näherzukommen, sollen zwei unterschiedliche Klärungen vorgenommen werden, eine wissenschaftsgeschichtliche und eine poetologische. Friedrich Kambartels Definition im Historischen Wörterbuch der Philosophie zufolge wird im ‘klassischen’ Gebrauch von « Naturgeschichte » das
beschreibend vorgetragene Wissen von der Natur und die es organisierenden Disziplinen, die heute auch so genannten beschreibenden Naturwissenschaften (wie etwa Mineralogie, « Physische Geographie », Geologie, Botanik, Zoologie, Paläontologie) und die zu ihnen gehörige Praxis des Sammelns, Aufzeichnens, Systematisierens[11]
bezeichnet, ein « Wissen » also und die Weise seiner Gewinnung. Ίστορια heiße « jede[ ] Art von Bericht oder Beschreibung », « welche nicht erklärungs- oder begründungsorientiert » (p. 526) vorginge, wie die Wiedergabe eines Krankheitsverlaufes oder ein Augenzeugenbericht vor Gericht, wie ihn Plinius maior in der Historia naturalis verwendet habe. (Begründende Diskurse hießen traditionell « philosophia naturalis »). Dieser ‘klassische’ Gebrauch von Naturgeschichte, so Kambartel weiter, habe im XIX. Jahrhundert in Schulfach- und Museumsbezeichnungen Konjunktur gehabt und sei so bis ins XX. Jahrhundert « durchaus gegenwärtig » (p. 526).
Zugleich gibt es, nach Michel Foucault und Wolf Lepenies, einen historischen Begriff von « Naturgeschichte », der eine spezifische Epoche der Naturforschung bezeichnet, gipfelnd in Linné und Buffon; Lepenies spricht vom Ende der Naturgeschichte durch die Historisierung der Natur im XIX. Jahrhundert, bei Foucault tritt dann die Biologie auf den Plan, auf einem Begriff von Leben aufruhend, den die auf räumliche Tableaus fixierte Naturgeschichte nicht zu bilden vermocht habe. Wie auch immer die Sache zu denken ist, fest steht zweierlei : erstens, in systematischer Hinsicht, dass es mit einem integralen Begriff der Natur, in drei Reiche gegliedert, dann vorbei ist, als die Biologie einen Trennungsstrich zwischen belebte und unbelebte Natur zu ziehen beginnt ; und dass zweitens in methodologischer Hinsicht Naturgeschichte das war, wovon man sich ab 1850 distanzierte, wenn man « wissenschaftlich » auftreten wollte. Das bloße Wissen von den Arten, auch von neuen Arten, ihrem Verhalten, ihrem Stoffwechsel und ihrem biologischen Kontext, erscheint jetzt als veraltet und vorwissenschaftlich. Die Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie schloss 1848 alles aus, was nicht Vergleichende Anatomie, Histologie, Embryologie und Physiologie betraf, alle « Berichte von neuaufgefundenen Arten » und alle « naturgeschichtlichen Neuigkeiten », eine Vorläuferin auf dem Weg in das Molekulare und in die genetischen Labors[12]. Damit kommt auch ein Prozess zu einem Ende, in dem die Literatur aus der Biologie gedrängt wird, und die Literaten mit ihr, um 1800 prominent Goethe, Merck, Forster (Federhofer). Zum dritten erfolgt um die Jahrhundertmitte – mit Darwin – die letztendliche Synthese aller bereits erfolgten Historisierungen, nach der Erde erhalten auch die Lebewesen eine Geschichte. « Naturgeschichte » hat damit zwar nicht aufgehört, ist aber in einer unübersichtlicher gewordenen Disziplin an den Rand gedrängt worden, in die Systematik, die Ethologie, die Frage nach der Biodiversität.
Für unsere Zwecke wird neben dem systematischen und dem historischen ein synthetischer Begriff von Naturgeschichte gefunden werden müssen. Eine Naturgeschichte heute, die von der Tradition aus denkt, wird vielleicht kein schlechtes, aber doch ein gespanntes Verhältnis zum Funktionalen (Physiologie und Genetik) haben sowie zum Historischen im engeren Sinn (Evolution) ; Naturgeschichte wird sich stattdessen für das Makroskopische, die Fülle der Gestalten und, gegebenenfalls, ihre Verwandlungen interessieren. Naturgeschichte ist damit eine Wissensformation ; eine Methode : das Sammeln und Ordnen ; eine Darstellungsform von Wissen : additiv, enumerativ, intertextuell. Naturgeschichte ist aber auch eine zum bewussten Anachronismus pointierbare Einstellung, eine sensibility, ein Set von Einstellungen und Werthaltungen, mit Ludvik Fleck gesagt : ein Denkstil, und, warum nicht, etwas, was mit Raymond Williams als structure of feeling bezeichnet werden kann ; eine Logik, eine Ethik und eine Ästhetik. Damit kann Naturgeschichte im Sinn der historia naturalis eine Artikulationsfläche von Alternativen zu dominanten Fusionen oder Fügungen von Geschichte und Natur sein; etwa der des einfachsten naturalisierten plots, dass die Stärkeren sich durchsetzen.
Eine solche Naturgeschichte würde dann die historischen Artikulationsformen solcher « Wissen » aufnehmen und wäre erkennbar an einer spezifischen Poetik : an einer Nähe zu pragmatischen Gattungen und den kleinen Formen, wie der Anekdote, der Chrie, der Fabel, der Allegorie, dem Emblem ; an « dichter Beschreibung », an topischen Katalogen : wenn Plinius ein Naturding beschreibt, nennt er zuerst seine Charakteristika gemäß dem Gebrauch, der davon zu machen ist ; seine Sympathien und Antipathien ; die Geschichte seiner Entdeckung ; seine Kunstfertigkeiten und Leistungen ; die Prodigien, die sich mit ihm verbinden[13] ; die entsprechende Topik bei Anita Albus wurde zitiert, die Buffons ließe sich nachreichen ; sie wäre erkennbar weiters an robusten Anthropomorphismen, mehr interessiert an moralisierter Natur denn an naturalisierter Moral ; sie wäre tendenziell populär oder zu Zeiten esoterisch, nicht aber professionell orientiert ; interessiert an Bildern, Emblemen, Illustrationen, Ekphrasis; schließlich angelehnt an plurale Überlieferungen, an das Hörensagen, an den Mythos und an die Ätiologie.
Geschichten, könnte man erwarten, werden sich mehr an die Sujets anlagern, als dass die Dinge als einer Geschichte unterworfen präsentiert würden. Texte, die auf Evolution und Darwinismus aufruhen, kreisen um die Zeit, um Fortschritt und Konflikt, um die Tiefenzeit (Stephen Jay Gould); ihre Protagonisten werden von Zeit, evolutionärer Zeit, durchströmt, sie sind Zeit und haben auch nur in der Zeit ihre möglichen Fluchtlinien, wie Kafkas Affe Rotpeter, der in seiner eisernen Kiste nicht nach links, nicht nach rechts, nicht hinauf, nicht hinunter flüchten kann und dessen einziger Ausweg in seiner evolutionären Zukunft liegt, er wird Mensch ; oder wie Gregor Samsa, der sich den Zumutungen der Moderne durch eine evolutionäre Rolle rückwärts entzieht, indem er Insekt wird. Demgegenüber haben in der Naturgeschichte die Wesen ihre Zeit und ihren Raum, ihre – immer diskutable und fragliche – Systemstelle.
Ein Test. Die Gattung der retro-Victorian novel (nach Sally Shuttleworth) in Ausprägungen wie bei Byatt (und John Fowles, und Lawrence Norfolk) wäre eine Versuchsanordnung, mit der solche Revisionsprozesse geführt werden können : Die paradigmatische Differenz von Naturgeschichte und Evolution wird dort aufgesucht, wo beide als tektonische Formationen aufeinandertreffen. Byatts Erzählung Morpho Eugenia (1992) spielt in den Jahren 1859-1862, also unmittelbar zur Zeit von Darwins Origin of Species. Der mittellose Evolutionist, Amazonasheimkehrer und Insektenforscher William hat die Adelige Eugenia Alabaster geheiratet und soll seinem frommen Schwiegervater im Austausch gegen Familienanschluss und Unterhalt Argumente gegen die Evolution zusammentragen helfen. Lebensgeschichtlich muss William feststellen, dass seine in kürzester Frist geborenen fünf Kinder keinerlei Ähnlichkeiten mit ihm, dafür in schöner Deutlichkeit den Typus seiner Schwiegerfamilie zeigen. Dem Insektenforscher ist, wie sich hier andeutet und in der Folge herausstellt, die Drohnenrolle zugedacht, während seine kleine Familie durch Inzest erhalten wird, gewissermaßen eu-genisch.
Die Peripetie in Williams Schicksal, das ihn in den Amazonas verschlägt, wird durch die bürgerliche Hauslehrerin herbeigeführt. Matty Crompton bringt William dazu, auf « a major scientific study », « the work of a lifetime » zu verzichten und stattdessen ein nützliches Buch, « a natural history » jener Ameisenkolonien zu verfassen, die sie seit Jahren mit den Kindern beobachten ;
yet of scientific value. You could bring your very great knowledge to bear on the particular lives of these creatures – make comparisons – bring in their Amazonian relatives – but told in a popular way with anecdotes, and folklore, and stories of how the observations were made – [14]
Natürlich wird es am Ende Matty sein, die die Meta-Morphose, die Verwandlung zum Schmetterling durchmacht. Die Gattungen, die in dieser Naturgeschichte anfallen, sind die der traditionellen Naturgeschichte : Anekdote, Fabel, Emblem und Novelle. Der wissenschaftsgeschichtliche Witz an diesem Roman ist, dass es das ältere Paradigma ist, das handlungsleitend und zur Konfliktlösung eingesetzt wird. Der Naturforscher als natural historian findet mit seinen Schreibgattungen den Weg aus den Labyrinthen der Genetik.
Der naturgeschichtliche Blick in der Moderne ist natürlich einer nach dem Darwinismus und den Verkettungen der Evolution, es ist einer, der nicht hinter die Evolution zurückwill, aber doch einer, der im Spiegel älterer Paradigmen Alternativen zu den aktuell dominanten Mensch-Natur-Verkettungen, enchaînements, eröffnen möchte. Schon früh war es gerade die blitzhafte, augenblickshafte Isolation der Dinge, die ausgerechnet den Ritter Linné für die Avantgarden interessant macht. H. C. Artmann übersetzt 1964 Linnés iter lapponicum, den Bericht der Lapplandreise von 1731. (Es ist, beiseite gesprochen, jenes Dokument, das in Byatts Biographer’s Tale von einem ersten Biographen umgeschrieben – oder gefälscht ? – wird, was ein zweiter Biograph entdeckt, der sich nun selbst in ein Gewirr von Natur, Literatur und Geschichte verstrickt, ausgerechnet in jenem Londoner Tresorraum, in dem Linnés Nachlass bewahrt wird.) Für Artmann ist es hier gerade der isolierende naturgeschichtliche Blick gewesen, die Unterbrechung der temporal-evolutionären Kontinua, die Linné für die Ästhetik der Wiener Gruppe attraktiv gemacht hat : « Was mich faszinierte », so Artmann in einer seiner raren poetologischen Äußerungen (zu landschaft 8),
war nicht der behäbige und distanzierende Bericht eines Naturforschers, sondern es waren die strahlenden Momentaufnahmen winziger Dinge, seien sie organischer oder anorganischer, materieller oder sozialer Art: abgesprungene, isolierte Details und im Strahlenglanz ihrer leuchtenden Faktizität. Hier finden sich Minibeschreibungen von Pflanzen und gerade aufgebrochenen Blüten oder eines bestimmten Sonnenwinkels, in dem sie erglühen. Da gibt es Listen von Mineralien und Holzarten, von Kochrezepten und Interieurs von Rauchstuben, Badekammern und auch ungewollt ‘poetische Notizen’ über merkwürdige Augenkrankheiten, oder, meinetwegen, Harnleiden, Vogelarten, Lurcharten. Mitternachtssonnenerscheinungen, und alles in der wertfreien Gleichzeitigkeit des Daseins.[15]
Fast zur selben Zeit eröffnet in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem Freund Artmann Konrad Bayer mit dem Romanprojekt (oder : Nicht-Romanprojekt) der kopf des vitus bering eine Textreihe, an der eine kleine Literaturgeschichte der Polarreise gezeichnet werden könnte, was in letzter Zeit von mehreren Autoren und Autorinnen bemerkt wurde. Diese Geschichte führt nicht unplausibel über Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) zu W. G. Sebalds von ihm so genannten « Elementargedicht » Nach der Natur (1988). Sebald kennt Ransmayr, der wieder Sebalds Manuskript an Enzensberger vermittelt[16]. Sebalds Freund Michael Hamburger übersetzt das Gedicht ins Englische. Nach der Natur, ein lyrisch-episches Triptychon, hat neben Teilen zu Matthias Grünewald und zum Bombenkrieg der Alliierten einen mittleren ‘Flügel’ zu dem Naturhistoriker Georg Wilhelm Steller, einem Teilnehmer von Vitus Berings Polarfahrt, den Sebald wieder aus Konrad Bayers kopf des vitus bering kennt.
Sebald dürfte einer der wenigen, wenn nicht der einzige rezente Autor sein, zu dessen Werkcharakteristik häufig ein Begriff von Naturgeschichte herangezogen wird. Fast ausnahmslos wird das durch die Wendung von der « Naturgeschichte der Zerstörung » begründet, die in Sebalds Text über die Verdrängung des Bombenkriegs aus der Literatur figuriert[17]. Diese « Naturgeschichte » sei die Benjamins und Adornos ; sie entstehe, so Adorno, an jenem Indifferenzpunkt von Natur und Geschichte, an dem beide qua Vergänglichkeit teilhaben ; seine Illustration die aus dem Trauerspielbuch bekannten Embleme von Ruine und Leiche, von Saturn und Totenkopf, von Melancholia und Hund. Wie es sich mit diesem Interpretament auch tatsächlich verhalten möge : Zum einen ist über jene Stellen Sebalds « Naturgeschichte » fester in der Geschichte der Naturforschung verankert, als Adornos Begriff es zuließe, von dem behauptet wird, er habe mit den Naturwissenschaften nichts zu tun (im Vortrag Die Idee der Naturgeschichte von 1932). Die Ringe des Saturn (1995) enthalten nicht nur eine Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Naturgeschichte, sondern auch eine « Naturgeschichte des Herings » und eine Monographie der Seidenspinner[18]. Zum anderen ließe sich aber umgekehrt von Walter Benjamin behaupten, dass seine Rede von « Naturgeschichte » anders als bei Adorno sehr wohl in der Ahnung begründet sein könnte, das ältere Paradigma der beschreibenden Disziplinen möge geeignet sein, die nötige Distanz zu dem So-Weiter der als Fortschritt gedachten Evolution herzustellen, als der eigentlichen Katastrophe, ein gegen die Darwin-Marx-Fusionen der Zweiten Internationale gerichtetes Denkmotiv, in Kontinuität zu den Antidarwinismen der Zeit. Dass Benjamin 1928 begeistert die Pflanzenfotografien Karl Blossfeldts rezensiert hat, sei nur in Parenthese erwähnt. Als Benjamin-Leser votiert Grünbein für das Diorama, als Sebald-Leser für die eklektische barocke Naturgeschichte eines Thomas Browne.
3. Naturgeschichte bei Christoph Ransmayr
Liegt die kritische Funktion der Applikation von Naturgeschichte in den in einem spezifischen Blick gesicherten Momenten der Isolation und der Unterbrechung, so gibt es auch eine produktive Funktion der Naturgeschichte zu verzeichnen. In den folgenden abschließenden Bemerkungen zu zwei Romanen von Christoph Ransmayr sei die These vertreten, Ransmayrs Texte könnten von Anfang an in der Spannung von Naturgeschichte einerseits, Evolution und Selektion andererseits verortet werden. Da Ransmayrs Werk in besonderer Weise der Konstruktion von semiautonomen Erzählwelten, ‘Weltentwürfen’ verschrieben sind, lässt sich annehmen, dass hier die Möglichkeitsbedingungen und internen Regulative dieser Welten auf dem Spiel stehen ; mitberührt sind die Fragen nach dem Status der Naturdinge in den Texten und die Frage nach Schichtungen und Staffelungen von Zeit.
Morbus Kitahara, 1995, Ransmayrs finstere Dystopie eines von den Siegern im Zweiten Weltkrieg entindustrialisierten Mitteleuropa, ist selbst eine Parabel über die Zeit, die für die Einwohner von Moor im « Steinernen Meer » nicht nur nicht vergeht, sondern sich nach rückwärts gedreht hat. Die Kontrastierung dieser Welten hat Ransmayr an anderer Stelle als Verfahren eines narrativen rubato erklärt :
Wenn sich ein Erzähler entschließt, dem zivilisations- und kulturgeschichtlichen Aspekt seiner Weltbeschreibung einen, sagen wir, naturgeschichtlichen Aspekt zur Seite zu stellen, erfährt er eine plötzliche Geschwindigkeitsveränderung. Die Entwicklung im historischen Raum erscheint plötzlich rasend, fliegend!, gemessen am Tempo etwa geologischer oder gar astronomischer Prozesse. Erzählen kann gelegentlich auch zum Versuch werden, diese Geschwindigkeiten in ihrer ungeheuerlichen Differenz aufeinander zu beziehen.[19]
Der Krieg erscheint als « Welt, die in das Zeitalter der Vulkane zurückzufallen schien »[20]. Den beiden Protagonisten Bering und Ambras sind Tiere bzw. Tiergruppen zugeordnet, dem Schmied Bering, der Ambras’ Leibwächter wird, der sich ‘Löcher in die Netzhaut’ starrt, die Vögel und Hühner ; Ambras die Steine und die Hunde. Ambras, dem Lager entkommenes Folteropfer, wird zum « Hundekönig » des Romans, es wurde gezeigt, dass die Figur auf Herman Melvilles dog king (The Encantadas or Enchanted Isles, 1854) auf den Galapagosinseln zurückzuführen ist[21], womit sich ein Darwin-Zusammenhang leicht einstellt.
Der Roman führt zunächst in die dunkle Welt Moors; den wilden Hunden, die die « Villa Flora », in der Ambras residiert, bewachen, muss in der bekannten Szene erst der Wille gebrochen werden, indem ihrem Leithund der Hals umgedreht wird. Diese Welt dürfte als Darwin-Welt nicht ungenügend charakterisiert sein, als Welt, in der Selektion und Kampf ums Dasein regieren.
Angesichts dieser semiotisch flachen, von Ritualen gelenkten und stets bedrohten Welt errichten sich die Protagonisten allerdings Zonen anderer Ordnung, Enklaven, die mit den Praktiken der Naturgeschichte ausgestaltet werden. Zur naturgeschichtlichen Dimension des Romans gehört schon die von Ransmayr ausgewählte Umschlagillustration : Es ist der Eisenhut aus Blossfeldts Urformen der Kunst von 1928. (Das Ransmayr-Heft der Rampe von 2009 ist mit Blossfeldt-Fotografien kongenial illustriert.)
So entwickelt Ambras eine Vorliebe für die « schimmernden Tiefen kristalliner Strukturen »[22] von Edelsteinen :
Selbst das stumpfe Glitzern frisch gebrochenen Granits erinnerte ihn nun an die Bauformen der Edelsteine, und tagsüber saß er oft stundenlang in seiner Verwalterbaracke und betrachtete mit einer Lupe die schwebenden Einschlüsse im Inneren seiner Smaragde. In diesen winzigen Kristallgärten, deren Blüten und Schleier im Gegenlicht silbergrün glommen, sah er ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt, das ihn die Schrecken seiner eigenen Geschichte und selbst seinen Haß für einen Augenblick vergessen ließ.[23]
An anderer Stelle ist von den « schwebenden Gärten » die Rede, « in denen sich das Licht zu Chrysanthemen und Sternblüten bündelt und bricht, im Innern der Kristalle, die der Hundekönig in den Schubladen seines Vogelschrankes verwahrt »[24], in einem Kabinett nach Art der naturgeschichtlichen Sammlungen der frühen Neuzeit. Bering, mit seinem Konrad Bayer-Naturforscher-Namen[25], ist mit Vögeln aufgewachsen, die, zusammen mit dem Traum vom Fliegen, seine Gegensemiotik garantieren. In erlebter Rede schwingt sich Berings Differenzierungskraft zu einer Anerkennung von (« Bio- »)Diversität auf, die der ex-oberösterreichischen Steinwüste und damit der Prosa des Romans die Qualitäten Adalbert Stifter‘scher Parataxe zuteil werden lassen, und diese hatten ja selbst an den naturgeschichtlichen Ordnungen partizipiert. Die folgende Passage nennt nicht weniger als 15 Vogelarten:
Er [Bering] hört den Pfiff des Eisvogels und das rauhe Schnurren eines aufgeschreckten Zaunkönigs. Wenn er über dem Geplauder der Rauchschwalben oder dem eintönigen Reviergesang der Sumpfmeisen schläfrig wird, weckt ihn manchmal der metallische Warnruf einer Goldammer. Er durchschaut die Stare, die großen Täuscher, die eine Singdrossel oder Amsel ebenso nachzuahmen vermögen wie den Schrei eines Turmfalken oder die Klage des Kauzes – und so oft wie seit Jahren nicht mehr hört er in diesem Frühling auch eine Nachtigall, die ihre rasenden Strophen stets mit einem melancholischen Flöten beginnt.
Er hört die Vögel im Morgengrauen, wenn er wach auf seinem Bett im Billardzimmer liegt oder wach zwischen den schlafenden Hunden auf dem Parkett des großen Salons. Er liegt jetzt oft bei den Hunden und muß jedesmal lächeln, wenn sie ihre Lauscher schlafend im Vogelsang spielen lassen. Dann fliegen ihm die alten, vertrauten Namen der Vögel zu, als flatterten sie aus jenen verlorenen Listen auf, die er in seinen Schuljahren in ein leer gebliebenes Auftragsbuch der Schmiede geschrieben hat, Seidenreiher, Elfenbeinmöwe, Trauerbachstelze, Kornweihe und Singschwan …[26]
Sein Gegenstück hat dieser nur subjektiv gewährte Blick in jener Welt, in die der Roman am Ende gerät, an den Antipoden Moors, in Brasilien ; keine Utopie freilich – auch hier gibt es Lager, Steinbrüche und Sieger –, schon deshalb nicht, weil die Europäer die ihre mitbringen. Doch ist Brasilien eine reiche Welt, in der sich der Nebelvorhang Moors ein- für allemal gehoben hat. Wieder einem Stifter’schen Landbesitzer nicht unähnlich, hat der Besitzer der « Fazenda Auricana », ein « Senhor Plínio de Nacar »,
die europäischen Barbaren besiegt und später die Wildnis selbst: Geschmückt mit den höchsten Kriegsorden Brasiliens, hatte er noch im Jahr seiner Heimkehr ein Erbe angetreten und in der Bucht von Pantano mit einer Armee von Landarbeitern gerodet, Maniok, Kaffee und Bananen gepflanzt und Steinbrüche eröffnet ‒ und hatte schließlich in Volieren und Käfigen, die nun um das Herrenhaus verstreut im Schatten von Aurelien, Fächerpalmen und Bougainvillea standen, alles gefangengesetzt, was er auf erschöpfenden Reisen durch die Dschungelgebiete seiner Heimat in Fallen erjagte : Mähnenwölfe aus Salvador, schwarze Jaguare aus der Serra do Jatapu, Amazonasalligatoren, Faultiere, einen Tapir, Königsurubus und Tukane, mehr als ein Dutzend verschiedener Affen- und Papageienarten, zinnoberrote Korallenschlangen und eine baumlange Anakonda.[27]
Doch während in Moor der Rost der Feind der Schmiede und Menschen ist, sind bei Senhor Plínio « über die Jahre » « die rostenden Eisenstäbe und Bambusgitter mancher Käfige und Volieren aber wieder so sehr mit dem nachdrängenden Busch verwachsen, daß ein fremder Besucher der Fazenda nicht mehr zu sagen vermochte, wo der Tiergarten des Patrons endete und wo die Wildnis begann »[28], eine Formulierung, die sich ganz ähnlich bei Goethe (die alte Stammburg in der Novelle) und dann bei Stifter (der Park in der sog. Letzten Mappe) findet. Mit der Renaturierung des Zoos in die Biodiversität des Dschungels – in dieser Passage werden 21 Arten genannt, dazu « sieben verschiedene Arten » Kolibris, « dutzende » von Affen und Papageien. « So unstillbar die Sammelleidenschaft des Patrons auch war », resümiert der Erzähler, womit Patron Plinio de Nacar würdig sein dürfte, den Namen eines Plinius Maior, des Autors der ersten Historia naturalis zu tragen – « nácar », portugiesisch und spanisch für Perlmutt –,
die Zahl der Wildtiere, die sein Reich ungehindert durchstreiften, überwog die Zahl der Gefangenen seines Zoos bei weitem: Muyra zeigte Bering, dem sonderbaren Europäer, der sie mit seiner Fähigkeit, Vogelstimmen nachzuahmen, manchmal erheiterte und verblüffte, Gürteltiere in der Dämmerung, Leguane – und auch eine Reihe von Spiritusgläsern, in denen der Patron jene Korallenschlangen konservieren ließ, die von den Stallknechten in der Jungviehkoppel erschlagen wurden.[29]
Wenn also anlässlich von Morbus Kitahara von Naturgeschichte die Rede sein können soll, dann ist es nicht die « Naturgeschichte der Zerstörung » von Sebald sensu Benjamin qua Adorno, nicht die Negativität der Vergänglichkeit, in der Natur historisch würde und die das naturhafte Ziel aller Geschichte wäre ; sondern Naturgeschichte bedeutete die irreduzible Positivität der Pluralität von Leben, bei Ransmayr das Gegenbild der menschengemachten Höllen ; ein Maßstabwechsel ins Naturgeschichtliche, aber in eine plenitudo, die Realisierung aller Seinsmöglichkeiten, für die bei Arthur Lovejoy die great chain of being der Naturgeschichte gestanden ist. Es ist bei Ransmayr die Menschenwelt, die sich in den Texten unter « Darwins » Gesetz gestellt hat, unter die Herrschaft der Selektion und der Soziobiologie; daher kann « es manchmal ratsam sein, beim Nachdenken über das Menschenmögliche von einer zumindest sprichwörtlichen Wolfsnatur auszugehen – das Leben der wirklichen Wölfe widerlegt ja alle Sprichwörter eindrucksvoll. »[30]
Dagegen setzt Ransmayr mit großer gerade literarischer Genauigkeit die Tradition der natural history, historia naturalis, Naturgeschichte, mit ihren pluralen Erzählformen, dichten Anthropomorphismen, die Welt der Sammlungen und der Reisenden, der Namen, der Listen, der Enumerationen und der Zeitsprünge, die hier mit dem Namen « Plinius » besiegelt ist; und nicht die Evolution der Zivilisation in einen universalen Kältetod, wie das immer wieder behauptet wurde.
Auch in der Letzten Welt ist die Darwin-Sphäre mit dem Nationalsozialismus und den Lagern verbunden. Thies, der Deutsche, Ransmayrs Version des Totengottes, ist der « letzte Veteran einer geschlagenen, versprengten Armee, die auf dem Höhepunkt ihrer Wut selbst das Meer in Brand gesetzt hatte »[31]; Thies wird verfolgt von dem Bild einer Fabrikhalle, in der « die Bewohner eines ganzen Straßenzuges zusammengepfercht und mit Giftgas erstickt worden » waren :
Das Tor hatte dem Ansturm der Todesangst, der Qual und Verzweiflung standgehalten, einer Welle keuchender, um Atem ringender Menschen, die in den Ritzen und Fugen des Tores vergeblich nach einem Hauch Zugluft gesucht hatten; die Starken waren auf den Leichnamen der Schwachen höher und höher gekrochen, aber gleichgültig und getreu den Gesetzen der Physik waren ihnen die Schwaden des Gases nachgestiegen und hatten schließlich auch die Starken in bloße Treppenstufen für die Stärksten verwandelt, die sich als Krone dieser Menschenwelle in den Tod quälen mußten, besudelt mit Blut und Kot und zerschunden vom Kampf um einen einzigen Augenblick Leben.[32]
Die Beklemmung dieser Passage wird nur noch vergrößert durch die Verlegung der Signale der Darwin-Welt in die Sphäre der Opfer. Aber diese Welt ist nicht die letzte Welt des Romans. Schon in Rom rätselt das literarische Publikum über die Gattungszuordnung der entstehenden Metamorphosen :
Das Publikum wurde aus dem großen Bogen, an dem entlang Naso seine Fragmente aneinanderreihte, nicht klug; schrieb Naso nun an einem Roman oder war es eine Sammlung kleiner Prosa, eine poetische Geschichte der Natur oder ein Album der Mythen, Verwandlungssagen und Träume?[33]
Alles zusammen, könnte man sagen, in der Gattung Naturgeschichte :
Verwirrt und vom Likör benommen verließ Cotta schließlich das Haus auf der Klippe, das, als er sich noch einmal umwandte, in einer Möwenwolke verschwand. Hatte Naso jedem seiner Zuhörer ein anderes Fenster in das Reich seiner Vorstellungen geöffnet, jedem nur die Geschichten erzählt, die er hören wollte oder zu hören imstande war? Echo hatte ein Buch der Steine bezeugt, Arachne ein Buch der Vögel. Er frage sich, schrieb Cotta in einem respektvollen Brief an Cyane, der die Via Anastasio niemals erreichen sollte, er frage sich, ob die Metamorphoses nicht von allem Anfang an gedacht waren als eine große, von den Steinen bis zu den Wolken aufsteigende Geschichte der Natur.[34]
Und diese letzte Welt wird dann angebrochen sein, wenn sie ihres Erzählers nicht mehr bedarf, am Ende des Romans Die letzte Welt :
Und Naso hatte schließlich seine Welt von den Menschen und ihren Ordnungen befreit, indem er jede Geschichte bis an ihr Ende erzählte. Dann war er wohl auch selbst eingetreten in das menschenleere Bild, kollerte als unverwundbarer Kiesel die Halden hinab, strich als Kormoran über die Schaumkronen der Brandung oder hockte als triumphierendes Purpurmoos auf dem letzten, verschwindenden Mauerrest einer Stadt.[35]
ISSN 1913-536X ÉPISTÉMOCRITIQUE (SubStance Inc.) VOL. XV
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[1] Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, der im Juni 2012 an der Universität Salzburg gehalten wurde.
[2] Zu Begriff und Geschichte der Naturgeschichte cf. W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte : Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München, Wien, Hanser, 1976 ; M. Foucault, Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1974 ; N. Jardine, J. A. Secord, E. C. Spary (dir.), Cultures of Natural History, Cambridge, UP, 1996 ; A. Albus, Paradies und Paradox. Wunderwerke aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt/M., Eichborn, 2003.
[3] Cf. U. Eco, Die unendliche Liste, aus dem Ital. v. Barbara Kleiner, München, dtv, 2011, p. 153-216.
[4] A. Albus, Von seltenen Vögeln, Frankfurt/M., S. Fischer, 2005, p. 225 sq., p. 237.
[5] Ibid., p. 239-273.
[6] H. M. Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft – Seitenblicke in Poesie und Prosa, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2004, p. 164.
[7] Cf. I. Hacking, « The Abolition of Man », in Behemoth, A Journal on Cilisation, n° 3, 2009, http://ojs.ub.uni-freiburg.de/behemoth/, p. 5-23, ici, p. 14.
[8] D. Grünbein, « Darwins Augen », in D. G., Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990-2006, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2007, p. 65-74.
[9] Ch. Ransmayr, Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör, Frankfurt/M., S. Fischer, ²2004.
[10] D. Grünbein, op. cit., p. 57-64.
[11] F. Kambartel, Art. « Naturgeschichte », in Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, Darmstadt, WBG, 1984, p. 526-527.
[12] Das Programm der Zeitschrift bei E. Ehlers, « Carl Theodor Ernst von Siebold. Eine biographische Skizze », in Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, n° 42 (1885), p. i–xxiii. Cf. L. K. Nyhart, « Natural history and the ‘new biology’ », in N. Jardine, J. A. Secord, E. C. Spary (dir.), Cultures of Natural History, Cambridge, UP, 1996, p. 426-43.
[13] Cf. R. French, Ancient Natural History, London, New York, Routledge, 1994.
[14] A. S. Byatt, Angels & Insects, London, Vintage, 1993, p. 93.
[15] H.C. Artmann, « ‘Ein Gedicht und sein Autor’: landschaft 8 », in H.C. A., The Best of H.C. Artmann, hg. v. Klaus Reichert, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1975, p. 373.
[16] Cf. A. Corkhill, « Angles of Vision in Sebald’s After Nature and Unrecounted », in Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, Vol. 72, n° 1, 2009, p. 347-67.
[17] Cf. P. Baumgärtel, Mythos und Utopie. Zum Begriff der Naturgeschichte der Zerstörung im Werk W. G. Sebalds, Frankfurt/M. u.a., Lang, 2010, (EH, Reihe 1, Vol. 2005), 2010.
[18] W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt/M., Eichborn, 1995, p. 67-77, p. 321 sq.
[19] Ch. Ransmayr, Geständnisse, p. 103.
[20] Ch. Ransmayr, Morbus Kitahara. Roman, Frankfurt/M., S. Fischer, 1995, p. 9 sq.
[21] K. Wagner, « Der Hundekönig. Zu einer Figur bei Christoph Ransmayr », Die Rampe, Linz, n° 3, 2009, p. 95-100.
[22] Ransmayr, Morbus Kitahara., p. 110.
[23] Ibid.
[24] Ibid., p. 250.
[25] Schon vom Namenssignalement her baut der Roman Verbindungen zu den frühen 1960er Jahren auf, wenn er mit « Am[b]ras » und « Bering » auf die beiden Epilepsie-Texte von Bernhard und Bayer anspielt.
[26] Ibid., p. 264.
[27] Ibid., p. 415 sq.
[28] Ibid., p. 416.
[29] Ibid.
[30] Ch. Ransmayr, Geständnisse, p. 128.
[31] Ch. Ransmayr, Die letzte Welt. Roman, Nördlingen, Franz Greno, 1988, p. 260.
[32] Ibid., p. 261.
[33] Ibid., p. 53.
[34] Ibid., p. 198.